Im SPIEGEL, Heft 12/1970 wurden in der Rubrik “Schulen” die damals an nordrhein-westfälischen Grundschulen neu erprobten Lehrpläne vorgestellt.
Die “starke bäuerlich-handwerklich-kaufmännische Ausrichtung” des bisherigen Rechenunterrichts genügt nach jüngsten pädagogischen Forschungen nicht mehr den modernen Anforderungen. Denn das Rechnen mit Zahlen, das vor allem schematisches Denken erfordert, wird im Berufsleben mehr und mehr von Maschinen erledigt.
Die neue Mathematik, die auf der sogenannten Mengenlehre basiert, soll dagegen logisches und analytisches Denken fördern. Die Erstkläßler beispielsweise müssen eine Menge von eckigen und runden, roten und blauen, großen und kleinen Figuren nach Form, Farbe und Größe sortieren. Durch diese Methode, die von Schuljahr zu Schuljahr anspruchsvoller wird, soll bei den Schülern – so die nordrhein-westfälischen Richtlinien – die “Fähigkeit des Ordnens … des Erfassens von Strukturen entwickelt werden”.
So also in Heft 12/1970. Ziemlich genau vier Jahre danach schaffte es die Mengenlehre dann sogar auf das Titelbild von Heft 13/1974. Doch der Enthusiasmus war dem Entsetzen gewichen.
Mengenlehre: „3 + 5 = 5 + 3“ war der Leitartikel des Heftes überschrieben. Es ging um Proteste und Prozesse gegen die Mengenlehre an Grundschulen.
Geschweifte Klammern und Ellipsen, in die immer neue und immer andere Mengen geschrieben oder gezeichnet werden, füllen viele Hefte. Väter und Mütter, die pflichtbewußt den Bestseller “Eltern lernen die neue Mathematik” oder ein anderes der fünf Dutzend Elternbücher gelesen oder einen Kurs an der Volkshochschule besucht haben, sind ihren Kindern wenigstens in der Erkenntnis voraus, daß es Mengen in Unmengen gibt: unter anderem Grund-, Teil-, Vereinigungs-, Ergänzungs-, Schnitt-, Unterschieds-, Null-, Verbindungs-, Rest-, Produkt-Lösungsmengen.
Aber selbst allabendlich strebend bemühten Eltern fällt es oft schwer, mit ihren Sprößlingen mitzuhalten oder ihnen zu helfen, wenn sich die Begriffe verwirren.
Von Mächtigkeit reden Achtjährige und meinen nicht Könige oder Kanzler, sondern Mengen von Haselnüssen und Rosinen. Und wenn sie sagen, irgend etwas sei irgend etwas anderem “eineindeutig” zuzuordnen, dann stottern sie nicht, sondern sind stolz darauf, daß sie dem Vater auch dann überlegen sind, wenn er Abitur und Doktortitel besitzt. Laut Mengenlehre-Gegner Hans Stahl (Stuttgart) “sehen die Kinder früh, zu früh, ihre Eltern hilflos und unwissend. Damit schwindet die Achtung, die Kinder können nicht mehr ihre Eltern fragen, deren Vorbild verblaßt”.
Klare Kampflinien gab es immerhin zwischen den akademischen Disziplinen:
Während Ärzte, Ärztekammern und -verbände vorerst nur vereinzelt gegen die Mengenlehre kämpfen, hat sich eine andere akademische Sparte fast vollzählig mit den empörten Eltern verbündet. Es sind die Universitätsprofessoren für Mathematik, die von der Art, wie Mengenlehre derzeit an deutschen Grundschulen betrieben wird, nicht viel mehr als nichts halten.
Mengenlehre sei zwar, argumentiert die “Deutsche Vereinigung für mathematische Logik”, eine “wichtige mathematische Disziplin”, aber für die Schule kaum geeignet. Dort könne es allenfalls eine “Gebrauchsmengenlehre” geben, die “eher eine Sprache als ein eigener mathematischer Stoff” sei und deshalb im Zusammenhang mit anderen Stoffen “allmählich und zwanglos eingeführt werden” solle.
Die Gegenpartei bilden, nahezu ebenso geschlossen, die Professoren für Didaktik der Mathematik, die an den Pädagogischen Hochschulen tätig sind. Sie sind auch als Schulbuch-Autoren bemüht, der Grundschule das neue Gebiet zu eröffnen, um Anschluß an die weiterführenden Schulen zu halten.
Es lohnt, den langen Artikel in Gänze zu lesen (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41784469.html).
In den scienceblogs haben wir aus Anlaß des 50–jährigen Jubiläums diejenigen Leser, die damals zur Schule gingen, gebeten, ihre Erfahrungen aus heutiger Perspektive zu schildern (http://scienceblogs.de/mathlog/2020/03/13/macht-mengenlehre-krank/). Die Ergebnisse waren durchaus überraschend. Leser und Leserinnen schrieben, sie hätten die Legomaplättchen geliebt und profitierten in ihren heutigen Jobs etwa als Softwareentwickler wunderbar von der in der Grundschule erlernten Mengenlehre. Anders als für jüngere Kollegen sei ihnen das Konzipieren von Abfragen, und somit von Teil-, Schnitt-, Unter- und sonstigen Mengen intuitiv möglich. Der Unterricht habe eine Grundlage gelegt, wie man Probleme strukturiert, sortiert, in Teilaufgaben zerlegt, wie man mit Mathematik sprechen kann. Später habe es ihnen geholfen, um Konzepte zu verstehen wie “Formale Sprachen”, “Entscheidbarkeit”, “Komplexitätstheorie” … alles, was ein Informatikdiplomstudium der 80er/90er Jahre ausmachte. Der damalige Matheunterricht mit seinen bunten Plättchen und den zugehörigen Schablonen zum Zeichnen der Formen habe ihnen sehr viel Spass gemacht, mehr Spass als ihren Kindern später in der Grundschule das Rechnen. Andere dagegen beklagten sich, sie hätten mit den vielen bunten Bildchen nicht Rechnen gelernt, sondern Malen, und könnten bis heute nicht Kopfrechnen.
Es ist natürlich möglich, dass die Leserschaft der scienceblogs keine repräsentative Stichprobe der Grundgesamtheit ist; vielleicht wäre es mal ein Thema für erziehungswissenschaftliche Master- oder Doktorarbeiten herauszufinden, wie damalige Schüler ihren Mathematikunterricht heute einschätzen und inwieweit – subjektiv in der Eigensicht oder möglichst objektiv in der Außensicht – die erlernten und eventuell nicht erlernten Fähigkeiten ihnen genutzt oder auch geschadet haben.
Besser als der reale Unterricht lassen sich die theoretischen und unterrichtskonzeptionellen Hintergründe der damaligen Reform anhand von Quellen, also erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Fachliteratur und vor allem damaliger Schulbücher und Lehrermaterialien rekonstruieren. Dies leistet die in dieser Rezension zu besprechende Arbeit “Die „Mengenlehre“ im Anfangsunterricht – historische Darstellung einer gescheiterten Unterrichtsreform in der Bundesrepublik Deutschland”, mit der die Autorin Tanja Hamann (https://www.uni-hildesheim.de/fb4/institute/imai/abteilungen/didaktik-der-mathematik-1/mitglieder/tanja-hamann/= im Jahr 2017 an der Universität Hildesheim promoviert wurde, durch den Vergleich dreier damaliger Lehrwerke: alef von Bauersfeld, Wir lernen Mathematik von Neunzig und Sorger, und Mathematik in der Grundschule von Fricke und Besuden, jeweils in den Ausgaben für das 1. Schuljahr.
Wie die Autorin in der Einleitung schreibt, möchte sie vorrangig eine Beschreibung der Reform liefern, die als Grundlage weiterführender Arbeiten dienen kann, gleichzeitig aber auch die übergeordneten Fragen im Hintergrund aufgreifen, insbesondere die Frage nach den Gründen für das Scheitern der Reform. Es sollen die zentralen Reformideen (Inhalte, didaktische Prinzipien, Methodik, Gesamtkonzept) auf den verschiedenen Ebenen (wissenschaftlich-theoretisch, kurrikular, unterrichtskonzeptionell, schulpraktisch) und die Rekontextualisierung der Ideen auf den unterschiedlichen Ebenen sowie die Entwicklung von Gesamtkonzept und Ideen im Verlauf der Zeit dargestellt werden.
Kapitel I über die wissenschaftlich-theoretische Ebene und internationale Reformeinflüsse stellt die Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern dar, während auf die USA nicht eingegangen wird, weil sich Ausgangssituation und Umsetzung dort stark unterschied. Als Impulsgeber werden auf insgesamt knapp 60 Seiten das Royaumont-Seminar und die Erkenntnisse Jean Piagets und Jerome Bruners sowie die Konzepte des Unterrichtsreformers Zoltan Dienes ausführlich diskutiert. Weiter geht es dann in Kapitel II (gut 50 Seiten) um den Verlauf der Reformen in der BRD und Kapitel III beschreibt und vergleicht dann auf jeweils 30-40 Seiten die drei obengenannten Lehrwerke. Kapitel IV ist den “Folgerungen” gewidmet.
Die Autorin kommt zu dem Fazit, die Mengenlehre sei als gescheitert anzusehen, weil “die Nähe der Umsetzung von Reformkonzepten zu den Ideen und Zielen, die ihren ursprünglichen Ausgang markieren”, nicht gegeben war, sie “vielmehr durch eine Fülle an Anpassungen und Verkürzungen, auf den verschiedenen Ebenen” gekennzeichnet gewesen wäre. Dennoch sei nicht alles, was im Zuge der Reform neu war, aus dem Unterricht verschwunden. Die Geometrie gehöre erst seit den 1970ern zum festen Kanon der Grundschule. Das Nachdenken darüber, welche Methode am geeignetsten ist, habe sich etabliert, Lernspiele bei Schulanfängern und Gruppenarbeit würden so wenig in Frage gestellt wie offener Unterricht allgemein. Schulbücher seien weiterhin bunt und enthielten viele Bilder, Begriffe sollten nicht vorgegeben, sondern erarbeitet werden. Die Bezeichnung des Faches als “Mathematik” sei geblieben, eine Rückkehr zum alten Fach “Rechnen” habe nie ernsthaft zur Debatte gestanden.
Wir beenden diese Besprechung mit einigen interessanten Auszügen zur Geschichte der Reform, die sicherlich nicht nur dem Referenten so nicht bekannt waren.
Ende 1973 und damit nach dem ersten abgeschlossenen Schuljahr, in dem die Reform in der Praxis implementiert worden war, ergriff eine wohl beispielsweise Protestwelle gegen die Neue Mathematik die Bundesrepublik. Dabei war die Reform des Mathematikunterrichts an den weiterführenden Schulen kein Thema, der Unmut richtete sich allein gegen die “Mengenlehre” in der Grundschule. […] Ein Jahr später waren sämtliche Massenmedien auf eine hysterische Debatte aufgesprungen, an der praktisch die gesamte Öffentlichkeit der Bundesrepublik Anteil nahm. Einen Eindruck von der Situation vermittelt Der Spiegel vom 25. März 1974, der der Reform unter der bemerkenswerten Schlagzeile “Macht Mengenlehre krank?” seine Titelseite widmete.
[…]
Neben den Anschaffungskosten für Material und der häufig geäußerten Sorge, eine Kürzung der Arithmetik zugunsten der neuen Inhalte würde unweigerlich zu schwächeren Rechenleistungen führen, war ein Argument, vermutlich ausgelöst durch fehlendes eigenes Verständnis der neuen mathematischen Inhalte, dass Eltern ihren Kindern nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen konnten. Ob dies überhaupt in großem Umfang nötig war, bleibt indes unklar. In dem im Spiegel wiedergegebenen Zitat eines “Mengenlehre-Gegner[s], die Kinder [sehen] früh, zu früh, ihre Eltern hilflos und unwissend. Damit schwindet die Achtung, die Kinder können nicht mehr ihre Eltern fragen, deren Vorbild verblaßt” kommen jedoch tieferliegende gesellschaftliche Überzeugungen zum Ausdruck, die sich gegen die emanzipatorischen Ziele der Reform richten und in der öffentlichkeitswirksamen Verteufelung der “Mengenlehre” ein eher zufälliges Ventil finden. Wie hoch in jedem Fall das Informationsbedürfnis über das, was im Mathematikunterricht geschah, in der Elternschaft war, belegen der Erfolg speziell für Eltern geschriebener Bücher über die Neue Mathematik, die Tatsache dass entsprechende Volkshochschulkurse Anklang fanden und auch die 1974 eigens zum Thema vom Niedersächsischen Kultusministerium herausgegebenen Hilfen zur Durchführung von Elternabenden.
[…]
Der heute so absurd anmutende Spiegel-Titel war weder reine Ironie noch bewußte Provokation, sondern gab wieder, was einige Ärzte tatsächlich öffentlich kolportierten, dass nämlich die mit den neuen Inhalten einhergehende Überforderung – für die es ihrerseits keine Belege gibt – Kinder krank mache. Wie ernst diese Aussagen genommen wurden, wird deutlich angesichts der Tatsache, dass die Frage vermeintlicher Gesundheitsschädigung es bis in die Parlamente schaffte und bei einer Anhörung in Baden-Württemberg 1974 ein eigens eingeladener Kinderpsychologe beschwichtigen mußte.
[…]
Es verdient hier noch unbedingte Erwähnung, dass die Erwachsenen die Diskussion um die “Mengenlehre” unter sich ausmachten, während Grundschulkinder – und damit die Hauptabnehmer der Reform – nie systematisch zum Mathematikunterricht befragt wurden. Es finden sich jedoch diverse Quellen, die darauf hinweisen, dass die Kinder mitnichten überfordert waren, die neuen Inhalte viel schneller beherrschten als die Erwachsenen – mithin wohl auch häufig keiner Hausaufgabenhilfe bedurften – und generell Freude an ihrem Mathematikunterricht empfanden. Noch 1973 konstatierten 73 Prozent der betroffenen Eltern in Baden-Württemberg, der Unterricht mache ihren Kindern Spaß, während 18 Prozent angaben, ihre Kinder empfänden Widerwillen.